Die
Chronologie ist das Grundgerüst, an dem alle geschichtlichen Ereignisse
festgemacht werden. Sie ergibt den Ablauf der Geschichte und macht
geschichtliche Zusammenhänge erst erkennbar. Ursprünglich hielt ich –
wie wahrscheinlich die meisten von uns noch heute - die uns bekannte
Chronologie für feststehend und unverrückbar. Wieso eigentlich?
Zweifel an
der uns heute bekannten Chronologie - im ausgehenden 16. Jh. von Joseph
Justus Scaliger aufgestellt – gab es schon früh. Bedeutende Vertreter in
der Vergangenheit sind Newton (18.Jh.), Velikovsky und Fomenko (beide
20.Jh.).
Die Thesen
der Chronologiekritiker werden bis heute von der etablierten
Wissenschaft einhellig abgelehnt. Die Gründe sind sicher vielfältig. Sie
sind für mich ein Teil systembedingt, in dem die Wissenschaft nur Ideen
zulässt, die die anerkannten Theorien weitestgehend bestätigen. So sind
logischerweise nur marginale Fortschritte möglich. Ein „Cut“ wie die
Korrektur unserer Chronologie ihn bedeutet, ist damit absolut
ausgeschlossen. Des Weiteren sind die Chronologiekritiker sämtlich keine
etablierten Fachexperten auf den betreffenden Gebieten, also keine
Archäologen, Mediävisten etc., so dass sich die Wissenschaft mit
Autodidakten und vermeintlichen Laien auseinandersetzen müsste, was
natürlich weit unter ihrem Niveau ist. Zum anderen besteht natürlich
auch die Furcht, bei Anerkenntnis solcher Thesen oder von Teilen dieser
selbst in die chronologiekritische Ecke gestellt zu werden, womit man sich
selbst ins Aus bugsieren würde.
Aber
sicher konnte die Chronologiekritik bisher auch noch kein in allen
Punkten wirklich stimmiges Konzept darbieten, wobei das natürlich einen
sehr hohen Anspruch darstellen würde. Auch ist der Kreis der
Chronologiekritiker ein ziemlich bunt gemischtes Völkchen mit den
unterschiedlichsten Thesen. Von Einigkeit in den Sachfragen keine Spur.
Das macht es der etablierten Wissenschaft relativ leicht, die Ideen der
Chronologiekritik in Bausch und Bogen abzulehnen und zu ignorieren. Auch
stehen die von der Chronologiekritik vorgebrachten Thesen scheinbar im Widerspruch
zu naturwissenschaftlichen Datierungsmethoden, die sich erfolgreich
etabliert haben. Das sind vor allem die so genannte C14-Methode und die Dendrochronologie. Trotz der mit Sicherheit berechtigten Kritik an
diesen Methoden kommt man nicht so ohne weiteres an diesen Methoden
vorbei wenn man die Chronologie korrigieren will.
Die derzeit populärste chronologiekritische These ist die sogenannte
Phantomzeitthese, die seit Beginn der 90er
Jahre des vorigen Jahrhunderts von ILLIG publiziert wird, nach der die Zeit zwischen 614 und 911
(297 Jahre) nicht existiert hat und in unsere Chronologie eingeschoben wurde. Da
dieser Zeitraum nie real abgelaufen sein soll, sieht ILLIG die darin
befindliche Geschichte als Verdopplung oder gar Verdreifachung realer
Ereignisse oder frei erfunden an. Alle überkommenen gegenständlichen
Zeugnisse dieser Zeit (Bauwerke und deren Reste, Skulpturen, Buchkunst,
Kleinkunst) sind diesem Zeitraum fälschlich zugewiesen worden und
gehören in die Zeit vor 614 bzw. nach 911. Urkunden und schriftliche
Überlieferungen sind sämtlich Fälschungen und Erfindungen späterer Zeit.
Bei den etablierten Historikern steht diese These bis heute auf dem
Index. In der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit wird diese These
heute schlichtweg ignoriert.
KORTH hat
zwar einen anderen Ansatz als ILLIG, sieht aber ebenfalls 297 Jahre zu
viel auf unserer Zeitachse. Nach ihm wurde die frühere AD-Zählung mit
der späteren CE-Zählung (= u.Z.-Zählung) irrtümlich gleichgesetzt, womit die ca.
297jährige Differenz zwischen beiden Zählungen zu einer ebensolchen
Verlängerung der Zeitachse führte. Nach ihm ging z. B. das Weströmische
Reich 476 AD unter, was 773 CE, was für ihn auch 773 u. Z. entspricht.
Die ca. 300jährige Lücke wurde u. a. durch Verdopplung realer Geschichte
gefüllt, so z. B. Konstantin der Große (306-337), der eine Kopie des
Herakleios (610-641) sein soll. Seiner Auffassung nach stimmt die
Zeitdifferenz von 297 Jahren sogar mit naturwissenschaftlichen
Ergebnissen (Astronomie, C14, Eiskernforschung) überein.
ARNDT ist der Auffassung, dass die alte Geschichte bis weit in das 18.
Jh. konstruiert ist. Ob und wie viele Jahre dabei zu viel auf der
Zeitachse sind, darüber lässt sich ARNDT nicht aus. Ihm geht es
ausschließlich um die Konstruktion der überlieferten Geschichte. Auf jeden
Fall ist seine Analyse der Herrscherabfolge im Mittelalter frappierend
und lässt auf jeden Fall an der traditionellen Darstellung des
Geschichtsablaufs zweifeln.
Seit etwa
2013 tritt HEINSOHN mit einer neuen, abgewandelten These an. Er
widerspricht ILLIG bzgl. einer eingeschobenen Zeit und der Erfindung der
Geschichte für diese. Nach HEINSOHN sind in verschiedenen Regionen
zeitlich parallel abgelaufene Ereignisse von der traditionellen
Chronologie auf der Zeitachse nacheinander eingeordnet worden, womit
sich eine deutliche Zeitdehnung ergeben hat. Nach seiner These sind die
Zeitabschnitte 1 - 230 (Westrom), 290 - 520 (Ostrom), 8.Jh. - 930
(Norden und Nordosten) parallel einzuordnen. Durch die parallele
Anordnung dieser drei Datierungsstränge entsteht eine dramatische
Verkürzung des ersten Jahrtausends auf weniger als 300 Jahre. Nach
HEINSOHN fand um 230 weströmisch (= um 520 byzantinisch = um 930
Norden/Nordosten) eine globale Naturkatastrophe statt, die maßgeblich
zum Untergang des bereits durch die Marc-Aurel-Krise Ende des 2. Jh.
geschwächten Weströmischen Reiches
führte. Von unserer Zeit aus gesehen fand diese Katastrophe um 930
statt, d. h. im 10. Jh. Im Gegensatz zu ILLIG verbleiben die Karolinger
bei HEINSOHN in der Geschichte. Sie sind jedoch Bestandteil der
römischen Geschichte des 1. - 3. Jh. HEINSOHN begründet seine These aufgrund
der Stratigraphie zahlreicher Grabungen europaweit, im Nahen Osten und
Nordafrika, in Skandinavien und Polen. Überall ist nur eine
Katastrophenschicht zu finden, unter der Römisches und über der
Nachrömisches bzw. Hochmittelalterliches zu finden ist. Nirgendwo sind
zwei oder mehrere Katastrophenschichten übereinander ergraben worden.
Auf diese Art gehen über 700 Jahre aus dem 1. Jahrtausend verlustig.
Damit wäre die Geschichte für das 1. Jahrtausend komplett neu zu schreiben.
(HEINSOHN-These)
Durch
meine Beschäftigung mit der vorromanischen Kunst war die Lücke an Bauten
vor dem 10. Jh. für mich unübersehbar. Durch
jüngere Bauforschungen wurden nahezu alle ehemals karolingisch datierten
Bauten, insbesondere in Frankreich, neu datiert und jetzt dem 11. Jh.
zugeschlagen, womit die Lücke noch deutlicher wurde. Eine nachvollziehbare Erklärung bot zunächst die
Phantomzeitthese von ILLIG. Durch das Streichen des 7. – 9. Jh. rückt
die Spätantike unmittelbar an das 10. Jh. Damit ließ sich für mich ein stimmiges Bild von der
Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im Römischen Reich unter Justinian I.
im 6. Jh. bis zum
Beginn der Christianisierung in Mitteleuropa um die Mitte des 10. Jh.
herstellen.
Die jüngere HEINSOHN-These, die ich
derzeit bevorzuge, lässt mich die Entwicklung des Christentums und die
damit verbundene Einordnung der frühchristlichen Baukunst durch die
drastische Verkürzung des Zeitraums zwischen Antike und Mittelalter
wesentlich besser nachvollziehen. Zwangsläufig ist eine Neuordnung der
Regierungszeiten der römischen Kaiser erforderlich. Dazu haben
HEINSOHN und BEAUFORT eine neue Kaiserliste erstellt. Danach gehören z.
B. Konstantin I. in das vorkatastrophische, weströmische 1. Jh. und Justinain I. in das
nachkatastrophische, weströmische 3. Jh. Von unserer Zeit aus gesehen
rücken Konstantin in das 8. Jh. und Justinian in das 10. Jh.
Während HEINSOHN seine These hauptsächlich auf der Grundlage von
stratigraphischen Betrachtungen entwickelt hat, ist BEAUFORT bemüht, die
Zusammenhänge um die verschiedenen Datierungen zu ordnen. Im Ergebnis
sieht BEAUFORT zwei Aktionen, einmal im 10. Jh. und dann noch einmal um
die Mitte des 11. Jh., die die Überdehnung der Chronologie verursachten.
Als Akteure sieht BEAUFORT Kaiser Justinian I., der in einer ersten
Aktion die Inkarnationszählung
des Dionysius Exiguus, d. h. die Zählung nach Christi Geburt, einführt
oder sogar erst erstellen ließ, sowie
in einer zweiten Aktion Michael Psellos
und Konstantin IX., die weitere 418 Jahre zwischen die
Inkarnationszählung und die Zählung nach unserer Zeit (u. Z.)
einschieben. Mit Dionysius Exiguus ist der Versatz zwischen der Zählung
der römischen Antike zur byzantinischen Spätantike um 284 Jahre verbunden.
Mit der Verschiebung durch Konstantin
IX. und Michael Psellos wurde die noch heute
gültige Zeitrechnung u. Z. geschaffen.
Das Motiv für die Verschiebung der Geburt Christi um 284 Jahre in die
Vergangenheit durch Kaiser Justinian I. (traditionell 527-565) sieht
BEAUFORT in der im Jahr 247 (= 531 byzantinisch)
bevorstehenden 1000-Jahr-Feier der Stadt Rom. Die Stadt Rom liegt seit
der Megakatastrophe im Jahr 238 (= 522
byzantinisch) in Trümmern und war ca. 10 Jahre nach der Katastrophe für eine
Millenniumsfeier nicht wirklich bereit. Durch die Verschiebung in die
Vergangenheit war die Millenniumsfeier lange Geschichte. Für Justinian
eine elegante Lösung.
Die jahrgenaue Datierung der Megakatastrophe oder auch
Justin-Katastrophe (weil zur Regierungszeit von Kaiser Justin) auf das
antike Jahr 238 bzw. 522 byzantinisch bzw. 940 u. Z. ist nicht sicher. BEAUFORT plädiert hier für
etwas mehr Spielraum, wiederholt zuletzt jedoch 238 = 522 = 938.
Die HEINSOHN-These, so wie sie
von HEINSOHN formuliert wird, legt nahe, dass die drei Datierungsstränge
ein territoriales Phänomen darstellen, beschränkt auf Westrom, Byzanz
und den Norden und Nordosten (welche Region damit auch gemeint sein
soll). Das ist m. E. nicht der Fall, da sich damit z. B. die
byzantinische Datierung der Merowinger nicht erklärt. Die drei
Datierungsstränge sind nicht territorial abgegrenzt, sondern sie ergeben
sich ausschließlich aus den unterschiedlichen Zeitrechnungen, die den
historischen Quellen, auf denen die traditionelle Geschichte fußt,
zugrunde liegen. Das schriftliche Niederlegen von historischen
Ereignissen ist offenbar eine antike Tradition, die in Westrom und in
Byzanz als Teile des ehemals Römischen Reichs natürlich vorhanden war,
auch im Westfrankenreich, das ebenfalls zum Römischen Reich gehörte,
jedoch nicht im Norden bzw. Nordosten, der nie Teil des Römischen Reich
war. Während über die Geschichte des Frankenreichs die
Decem
libri historiarum
des Gregor von Tours berichten, gibt es für den Norden und Nordosten
keine vergleichbaren schriftlichen Quellen.
Die Geschichtsleere des Norden
und Nordosten wurde ab dem 12. Jh. rückwärts mit größtenteils erfundener
Geschichte gefüllt. Es galt natürlich nicht nur die Phantomzeit mit
"Geschichte" zu füllen, sondern auch die anschließende reale,
geschichtsquellenlose Zeit. So entstehen solche "Geschichtswerke" wie die
Sachsenchronik des Widukind, die Chronik des Thietmar von Merseburg oder
die Gesta Oddonis der Hrotsvith
von Gandersheim
u. a. für die Geschichte der Ottonen. Sie sind jedoch ausnahmslos
Pseudepigraphen. Genauso wurde die Geschichte der Karolinger mit Hilfe
fingierter Briefe, Viten, etc. Alkuins und Einhards konstruiert.
ARNDT spricht von der
"Fiktionalität eines wesentlichen Teils der Pippiniden- und
Karolinger-Geschichten" [100]. Es kommt noch schlimmer. Die gesamte
Geschichte des deutsch-römischen Kaisertums im Früh- und Hochmittelalter
beginnend von den Karolingern über die Ottonen, Salier, Staufer
und wahrscheinlich auch darüber hinaus ist erfunden. Das
römisch-deutsche Kaisertum im Früh- und Hochmittelalter hat es nie
gegeben.
ARNDT hat in seiner Arbeit "Die
wohlstrukturierte Geschichte" ein geschlossenes System der Abfolge der
mittelalterlichen Herrscher von 768 bis 1493 aufgedeckt, das belegt,
dass die gesamte Geschichte in diesem Zeitraum gefälscht oder - milder
ausgedrückt - konstruiert ist.
Leider ist auch England nach dem
Ende der römischen Besetzung geschichtsleer. Es gibt keine glaubwürdige
Geschichtsquelle. Die berühmte
Historia ecclesiastica
gentis Anglorum
von Beda Venerabilis, die angeblich zum ersten Mal die Jahreszählung
nach Christi Geburt verwendet, ist ein Pseudepigraph (nach JOHNSON
im 16. Jh. geschaffen) zur Schaffung von "Geschichte" in der Phantomzeit
Englands, analog dem oben beschriebenen Vorgehen im mitteleuropäischen
Raum. ARNDT [109ff] weist
nach, dass die englische Geschichte bis in das 16. Jh. konstruiert ist.
Er verweist auf JOHNSON, der bereits um die Jahrhundertwende zum 20. Jh.
zu dem Schluss kommt, dass die englische Geschichte bis Heinrich VIII.
(1491-1547) gefälscht sein muss [ARNDT, 113].
Dabei ist es jedoch nicht
ausgeschlossen, dass ehemals real existierende Personen in der
mündlichen Überlieferung in Form von Legenden und Sagen "überlebt" haben
und in die Geschichtskonstruktion der Vergangenheit Eingang gefunden
haben. Als solche sehe ich Karl den Großen und Otto den Großen -
natürlich nicht mit der überlieferten Geschichte. Die Vorlage für Karl
den Großen war vielleicht der Karolinger Karl III., der Einfältige oder
Simplex, den ich Ende des 9./Anfang des 10. Jh. als Herrscher der
Rheinfranken sehe.
HEINSOHNs vorgesehene Publikation "Wie
viele Jahre hat das erste Jahrtausend", in der er seine These vorstellt,
ist bisher noch nicht veröffentlicht. Einen ersten Blick erlaubt der
Autor auf der Webseite "www.q-mag.org/gunnar-heinsohns-latest" unter dem
Titel "The Creation of the First Millennium". Zu verschiedenen Details der HEINSOHN-These und der
BEAUFORT-Datierungen ist derzeit die Diskussion immer noch im Gange. Die
noch laufende Diskussion hat jedoch keinen Einfluss auf die vorliegenden
Ausführungen.
Die
traditionelle Geschichtsschreibung, die ihre Erkenntnisse aus den
verschiedensten Quellen (römischen, byzantinischen, merowingischen,
karolingischen etc.) gewonnen hat und gewinnt, hat dieses Phänomen der unterschiedlichen
Datierungsstränge der Quellen nicht erkannt und historische Vorgänge unbereinigt in
die Chronologie eingefügt. Dadurch ergibt sich die heute vorhandene
Überdehnung der Chronologie des ersten Jahrtausends und ein völlig falsches
Geschichtsbild. Erst mit der Rückführung der Datierungen
auf eine einheitliche Basis kann für die Chronologie und die Geschichte
ein stimmiges Bild entstehen.
Übrigens datierte der Vatikan erst ab 1431 Urkunden „nach Christi
Geburt“.